6 Monate Reisen – Eine Zwischenbilanz

Wie schnell die Zeit vergeht! Ich habe mit vielen anderen Reisenden über die Wahrnehmung der Zeit gesprochen. Ich möchte mit diesem Artikel einen Rückblick auf die sechs vergangenen Monate wagen und Bilanz ziehen.

Den Grossteil meiner Reise verbrachte ich in Kolumbien. Dieses Land hat eine unglaubliche Anziehungskraft und fasziniert mich jeden Tag aufs Neue.

Zeit existiert nicht

Mein erster Eindruck ist, dass meine Zeit hier schneller läuft als zu Hause. Das lässt sich dadurch erklären, dass ich hier fast nichts muss und fast alles darf. Ausserdem ist jeder Tag anders, abwechslungsreich und ich verbringe viel Zeit mit Gesprächen – meine Lieblingsbeschäftigung überhaupt.

Wenn ich zurückdenke und meine Journals anschaue (ich bin inzwischen beim dritten Büchlein) merke ich, wie viel ich schon erlebt habe. Die Tage sind voll von Eindrücken, von Farben, von Gerüchen und Erlebnissen.

Vor zwei Wochen schaute ich im Republica Hostel einen Film (neuerdings organisieren wir jeweils sonntagabends eine Movienight, projezieren draussen beim Pool einen Film auf eine Leinwand), der ´In Time´ heisst. Das Prinzip des fiktiven Streifen besteht darin, dass Zeit die neue Währung ist. Je mehr man verdient, desto mehr Zeit hat man zum Leben. Reiche leben demnach länger als Arme.

Ich habe mir überlegt, was Zeit für mich bedeutet. Sie ist sehr wertvoll und schwierig zu beschreiben, unsichtbar und doch präsent durch Veränderung. Unaufhaltbar schreitet sie voran, gefühlt schnell oder langsam, je nach Situation.

Jedoch: Je mehr man sich Zeit nimmt, desto mehr beginnt man sie zu vergessen.Im Moment ist es mir gleichgültig, ob es drei oder vier Uhr nachmittags ist. Ich weiss oft nicht genau, welchen Wochentag und welches Datum wir gerade erleben. Das einzige, was zählt bei den Reisenden (und oft eine der ersten Fragen): Wie lange bist du schon unterwegs? Und noch wichtiger: Wie viel Zeit bleibt dir noch?

Im Film In Time ist Zeit die neue Währung (Foto: https://www.moviepilot.de/movies/in-time)

Eine Hymne auf Südamerika

Ich bin zufrieden, Südamerika als Reisedestination ausgewählt zu haben. Ich fühle mich hier pudelwohl und das Wichtigste: Ich kann immer besser Spanisch sprechen und mich so mit allen unterhalten. Dies macht es mir möglich, mit Menschen verschiedenster sozialer Schichten und Hintergründe zu kommunizieren und vor allem: zu fragen. Jeden Tag beobachte ich Dinge, die ich nicht verstehe oder Verhalten, das ich nicht nachvollziehen kann. In diesen Momenten frage ich meistens und kriege spannende Antworten. Egal ob es sich (1) um eine neue Frucht handelt (hier entdecke ich jede Woche eine Neue) oder ob ich nicht verstehe, warum (2) ein Kolumbianer einfach so unglaublich relaxt sein kann, wenn er zu spät zur Arbeit erscheint. Oder warum (3) die Englischlehrerin des Collegios publicos kein Englisch spricht. Oder warum (4) viele Venezolaner hier Bonbons verkaufen. Fragen hilft.

Ciruelas: Sogenannte´chilenische Pflaumen´, die so gar nicht nach Pflaume schmecken oder danach aussehen (https://www.elheraldo.co/local/se-inicia-el-festival-de-ciruelas-en-campeche-188286)

Kurz zu den Antworten: (1) Die Frucht der Woche heisst Ciruela und ist klein wie eine Baumnuss und grün. Sie schmeckt wie ein saurer Apfel und ist etwas samtig auf der Zunge und sehr erfrischend. In der Mitte steckt ein kleiner Kern. Oft sieht man die Kolumbianer, wie sie diese Frucht unterwegs essen. (2) Spät kommen ist hier an der Tagesordnung, kann aber durchaus Konsequenzen haben. Meistens passiert nichts, also ist Spätkommen auch kein Grund zur Beunruhigung. Man sollte es jedoch nicht auf die Spitze treiben. (Ein Kollege von mir wurde deswegen gefeuert). (3) Die Englischlehrerin hat ihr Englisch auf Youtube und aus Büchern gelernt. So unterrichtet sie das, was sie kann: Grammatik und Orthografie. (4) Die Venezolaner verkaufen Bonbons, damit sie nicht mit leeren Händen betteln müssen. Das Geld schicken sie nach Venezuela, damit die Familie dort etwas zu Essen hat.

Die Menschen hier erzählen gerne und so habe ich auf mancher Taxifahrt Lebensgeschichten erfahren.

Reis mit Bohnen, Patacones und vor allem: Früchte, Früchte, Früchte

Vor etwa drei Wochen musste ich einen Reis-Stop einlegen. Hier gibt es jeden Tag Reis. Reis mit Bohnen, mit Linsen, mit frittiertem Poulet, mit Fisch, mit Patacones (das sind die grossen grünen Bananen, gestampft und frittiert). Kurz: Ich konnte keinen Reis mehr sehen. Aus irgendeinem Grund habe ich mich aber nach einigen Tagen wieder davon erholt und esse weiterhin munter meinen Reis.

Das Essen ist lecker und billig, Kolumbianer(innen) lieben es süss und fettig. Obwohl verschiedenes Gemüse angebaut wird, kommt Grünes eher selten auf den Teller. Zum Glück kann ich hier in Santa Marta selbst kochen (Dazu kommt, dass Manu, der eine Volunteer, Berufskoch ist und für uns heute beispielsweise ein Gericht zaubert).

Manus Kreation: Kartoffeln mit Rosmarinsenfsauce, Reis und Schweinsgehacktes mit Peperoni und Zwiebeln. Lecker!

Die Vielfalt der Früchte ist unendlich, jede Woche entdecke ich eine neue Sorte. Meine neuester Fund: Sternfrucht direkt ab dem Baum. Reif ist die hier als Torombolo bekannte Frucht dunkelorange und nichts Ungewöhnliches, als ich kürzlich in Ciénaga war, hat mir die Nachbarin von Saranagatha (er kommt von da und hat mir seine Familie vorgestellt) den Baum gezeigt und gemeint, sie sei froh, wenn jemand die Früchte mitnimmt, die würden bei ihr nur abfallen und verrotten. In der Schweiz platziert der Koch eine kleine Scheibe Sternfrucht auf den Teller und wir empfinden dies als exotisch. Bald beginnt die Saison der Mango, sie reifen in solchem Überfluss, dass man sie in den Dörfern gratis am Strassenrand mitnehmen kann.

Die Kolumbianer lieben Süssgetränke und trinken ihren Kaffee und die Säfte mit viel Zucker. Panela ist das heimliche Nationalgetränk, gemacht aus Zuckerrohr und Limette. Lecker!

Das Essen ist oft fettig und es ist normal, wenn man hier in Südamerika etwas Gewicht zulegt. Zum Glück fällt es nicht auf, denn das Schönheitsideal hier unterscheidet sich klar von dem in Europa. Ein grosser Hintern gilt hier als schön. Ich finde es toll zu sehen, wie selbstbewusst sich die fülligen Frauen hier bewegen, tanzen und von den Männern bewundert werden.

Im Vordergrund Ceviche in einem der besten Fischrestaurants Santa Martas (Donde Chucho). Im Hintergrund die leckeren Patacones.

Bei Saranagathas Grossmutter zu Hause: Plátanos (grüne Kochbananen) geschnitten und frittiert ergeben leckere Bananenchips.

Ein Mittagessen to go. Reis, Nudeln und Fleisch. Viel Stärke jeden Tag. Dafür ist es sehr preiswert und macht satt: Diese Mahlzeit kostet etwa 1.50 Franken.

Eingeladen bei einer Familie in Fundación, einem kleinen ehemaligen Kolonialdorf, das vom Früchteanbau und von Agrikultur lebt. Es gibt Yuca (eine Wurzel, die ähnlich wie Kartoffel schmeckt) und frischer, frittierter Fisch. Dazu grüne Mango direkt vom Baum, bestreut mit Salz.

Strassenleben – es gibt nichts Schöneres!

Ich habe mich an das Leben hier gewöhnt. Die Menschen leben auf der Strasse, Strassenverkäufer, Musik und offene Türen sind hier Standard. Welch wunderbare Gewohnheit, vor seinem Haus in den Plastikstühlen sitzen, Tinto (Kaffee) zu trinken, Nachbarn und Vorbeigehende zu begrüssen und einen Schwatz abzuhalten. Besonders für die älteren Menschen ist das Unterhaltung pur, die (Gross-)Kinder kommen vorbei, bringen Freunde und Cousinen und so wird es nie langweilig.

Strassenleben in Fundación

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Strassenleben pur: La Quinta in Santa Marta

Am Leben teilhaben

Der Traum jedes Reisenden ist, dass man Einblick in das Leben der Einheimischen erhält. Ich habe schon viel Glück gehabt und bin immer wieder eingeladen worden.

In Peru konnte ich an einer Geburtstagsfeier einer 90-jährigen teilhaben, in Ecuador lernte ich mit den Angestellten Cappuccino und Crèpes kreieren und servieren, in Kolumbien wurde ich schon mehrmals zum Almuerzo (Mittagessen) eingeladen und habe auf den Plastikstühlen inmitten von Grossvätern, Cousinen und Tanten Reis mit Linsen und Leber gegessen. Die Menschen auf diesem Kontinent sind unglaublich gastfreundlich, so bot man mir ein Bett angeboten, als ich den letzten Bus in einem kleinen Dorf verpasst hatte. Der eine Sohn übernachtete auf dem Sofa.

Wie kommt man zu solchen Erlebnissen? Meine Erfahrung ist, dass ich mich treiben lassen muss. Wenig organisieren und mit offenen Augen durch die Strassen laufen. Oft plane ich meine Tage nur sparsam: Ich weiss manchmal, was ich am Abend unternehmen werde, dass ich zu dem Strand gehe oder ein Museum besuchen möchte, aber das ist dann schon genug geplant. Oft plane ich nicht mehr als eine Sache pro Tag. Der Rest kommt von allein.

Zum Beispiel beim Yoga am Strand: Manchmal hat morgens niemand die Lust, früh aufzustehen und sich zu bewegen, dann mache ich es alleine, was auch sehr schön ist. Dabei habe ich bis jetzt immer Menschen kennengelernt, die mit mir Yoga gemacht haben, mit denen ich nachher was trinken gegangen bin oder die mich zu ihnen nach Hause eingeladen haben.

Wenn man wie ich einige Wochen (oder Monate!) an einem Ort verweilt, eröffnen sich einem neue Möglichkeiten, mit Menschen in Kontakt zu kommen. Santa Marta hat sich mir ganz neu offenbart, als ich mehr Zeit mit Locals (so nennt man die Einheimischen im Reisejargon) verbracht habe.

Dazu gehört, dass man immer wieder JA sagt und aus seiner Komfort-Zone herausschlüpft. Natürlich immer mit Verstand und Vorsicht. So ist es nicht ratsam, solche Spontanbesuche in der Nacht zu unternehmen und ich informiere jeweils immer mindestens eine Vertrauensperson, wo ich mich hinbegebe.

Diese Venezolaner wollten unbedingt ein Selfie mit mir – und ich habe den Jüngeren etwas Englisch beigebracht, nachdem sie mit mir Akrobatik-Yoga gemacht haben

Eine Familie in Fundaciòn, die ich am Strand von Santa Marta kennengelernt habe und die mich zu sich nach Hause eingeladen hat.

Esel sind hier nicht nur zum Streicheln da, sondern dienen als Transportmittel.
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Oft sind die Häuser und die sanitären Einrichtungen einfach. Hinter dieser Wand ist das WC und ein Wasserbecken, mit dem man das Wasser in die Toilette spült. Ich fühle mich an diesen Orten oft wie in die Vergangenheit versetzt und muss an das Leben meiner Urgrosseltern denken, die möglicherweise ähnlich gelebt haben.
Der berühmte Plastikstuhl
Hin und her schwingen mit der Liane in Minca. Das ist wie beim Reisen: Wenn man sich versichert hat, dass die Liane hält, kann man sich baumeln lassen und den Luftzug geniessen

Den Moment finden, zu gehen

Wann ist der richtige Zeitpunkt, weiterzureisen? Das ist tatsächlich das Schwierigste beim Reisen ohne feste Planung. Normalerweise höre ich dazu auf meine Intuition und auf Ideen oder Wegweiser, die auf mich zukommen. Beispielsweise bin ich nun (endlich) bereit, Santa Marta hinter mir zu lassen, diese tolle Stadt mit gutem Gefühl zu verlassen. Manche Orte sind einfacher zu verlassen und manchmal gibt es einfach einen guten Grund zu gehen – etwa der Yogakurs in Cali. Es kommt aber schon vor, dass man zu lange an einem Ort steckenbleibt. Das merkt man aber schnell und dann nichts einfacher als den Rucksack packen – und weiter gehts!

Generell bin ich ein Fan vom Langsam-Reisen. So ganz nach den Prinzipien ´weniger ist mehr´ und ´pro Land mindestens einen Monat´. Das hat sich überaus bewährt.

Zeit haben

Das beste am Reisen ist Zeit haben. Wie zu Beginn dieses Eintrags schon gesagt. Zeit existiert nicht. Ich verbringe manchmal eine Stunde an einem Ort und beobachte das Treiben. Oder treibe selbst in einem Markt oder mit Schnorchel und Taucherbrille im Meer. Die Sonne scheint sowieso, es gibt keine Jahreszeiten, nur trockene oder regnerische Zeiten.

(Kurzer Kommentar: Im Moment brennen in der Selva, in Minca, grosse Feuer und bedrohen die indigenen Dörfer sowie einzelne Fincas mit Wohnhäuser. Der Regen wird sehnlichst erwartet und kommt einfach nicht!)

So wünsche ich euch Leser(innen), dass ihr euch Zeit nehmen könnt, einfach zu sein. Ich werde definitiv versuchen, diese Fähigkeit in meinen Alltag zu integrieren.

Südamerika – ich komme wieder!

Dies ist mein erstes – aber sicher nicht mein letztes Mal in Südamerika. Es gibt noch so viel zu Entdecken – ich habe erst gerade damit angefangen.


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